Kiez und Kleinstadt

In seinem Regiedebüt »In Berlin wächst kein Orangenbaum« spürt Kida Khodr Ramadan verlorene Orte auf

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Kleinstadt, darüber sind sich nicht nur Großstädter einig, ist ein elender Ort. Der Zug hält nur alle paar Stunden, am Schnellimbiss futtern deutsche Rassisten asiatisches Fastfood, die Apotheke hat mittwochs zu, das letzte Restaurant schon seit Jahren. Da hilft oft nur Zynismus. »Gib’s vielleicht ein Kino oder ein Café, wo man so seine Zeit vertreibt?«, fragt der Berliner Nabil arglos, als er das Umland besucht. »Ja, das ist direkt bei der Oper«, antwortet die Brandenburgerin Juju schnippisch. »Einfach nur rechts bei der Montessorischule vorbei und dann links an der Wildwasserbahn.« Witzig.

Aber höchst real. Denn obwohl sie ein Großstädter ersonnen hat, gibt es diese Kleinstadt wirklich. Nicht namentlich zwar; Kleinschmagow ist schon deshalb ein Fantasiebegriff, um keinem Bewohner vergessener Landstriche vor den Kopf zu stoßen. Sie existiert jedoch im ARD-Film eines Darstellers mit so viel Realismus auf der Künstlerseele, dass solche Illusionen sehr wahrhaftig werden: Kida Khodr Ramadan.

Bei seinem Regiedebüt »In Berlin wächst kein Orangenbaum« spielt das Kreuzberger Bürgerkriegskind aus Beirut heute Abend wie so oft einen Gangster mit Herz im heimischen Kiez. Fast 15 Jahre, bevor die Gefängnisärztin dem verurteilten Polizistenmörder zu Beginn der 90 Minuten unheilbaren Krebs attestiert, hat Nabil - so lernen wir in Rückblenden - nicht nur den letzten Raubüberfall verpatzt, sondern ein Kind gezeugt, Juju, die mit der Wildwasserbahn. Dank seiner Diagnose vorzeitig haftentlassen, erfährt Nabil nun von ihrer Existenz und beschließt, den Anteil der Beute von damals dafür zu investieren, sie kurz vorm Sterben nochmals richtig kennenzulernen.

Kein einfaches Unterfangen, wenn ihn deren Mutter Cora (Anna Schudt) hasst, sein Komplize Ivo (Stipe Erceg) nicht teilen will und Tochter Juju (Emma Drogunova) glaubt, ihr Vater sei ein erfolgreicher Geiger auf ewiger Welttournee. Dass er exakt die Antithese dieser elterlichen Schutzbehauptung ist, macht Nabils Vorhaben nicht leichter. Und doch beginnen beide sich anzunähern - erst in ihrem Provinznest, dann in seiner Millionenmetropole, augenblicklich um einander bemüht.

Im Tempo dieser Annäherung besteht zunächst auch der einzige Makel an Kida Khodr Ramadans Drehbuch, das er mit dem Theaterautoren Juri Sternburg verfasst hat. Ein Teenager, der seinen Erzeuger nach so langer Abstinenz derart schnell ins Herz schließt, ist ein ähnlich unwahrscheinlicher Twist wie Jujus Cello, das sie im Umfeld von Perspektivlosigkeit, Alkoholismus und Hochkulturmangel verblüffend virtuos beherrscht. Macht aber auch nichts. Denn abseits fernsehgerechter Klischees gelingt es »In Berlin wächst kein Orangenbaum« mit dezenter Leichtigkeit, das Lebensgefühl abgehängter Schichten in eindringliche Bilder (Kamera: Ngo The Chau) zu übersetzen. Trotz des passgenauen, weil genregerecht Hip-Hop-lastigen Soundtracks nämlich brilliert der Film durch die Ruhe wesentlicher Hauptfiguren. Dem unablässigen Redeschwall von Juju oder Ivo setzt Kira Khodr Ramadan dessen vermeintlich todgeweihten Jugendfreund entgegen, der wenig spricht und selbst das gern in sich reinnuschelt. Aus dem verschwiegenen Gesicht des 44-jährigen Schauspielers entfaltet diese Einsilbigkeit einen unausgesprochenen Redeschwall, der meistens mehr sagt als tausend Worte und damit an Ramadans Rolle als Toni Hamady in Marvin Krens Meisterwerk »4 Blocks« mit weniger Gewalt erinnert.

»Es ist nicht so, wie du denkst«, bügelt Nabil Fragen nach seiner Existenz einmal wie so oft sprachlich versiegelt ab, worauf Juju entgegnet: »Wenn jemand sagt, es ist nicht so, wie du denkst, ist es garantiert so, wie du denkst.« In seiner präzisen Zeichnung zweier Parias der Leistungsgesellschaft ist das geradezu brillant und schafft etwas, was im Mainstream noch immer die Ausnahme bildet: Empathie mit Ausgestoßenen. AfD-Fans jedenfalls dürften beim Betrachten dieses mitfühlenden Melodrams aus Sicht eines Straftäters mit Migrationshintergrund beim Schreiben ihrer Hassbotschaften auf die Tastatur brechen.

Allein das wäre abseits kurzer, aber prägnanter Nebenrollen für Hauptrollenstars von Tom Schilling (Anwalt) bis Frederick Lau (Häftling) schon ein guter Zweitgrund, »In Berlin wächst kein Orangenbaum« zu sehen. Der erste ist die fesselnde Authentizität, mit der Kida Khodr Ramadan seine Großstadt und das Land ringsum beschreibt.

»In Berlin wächst kein Orangenbaum«, heute 22.50 Uhr, ARD

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